Stellen Sie sich vor, Ihre Tochter, Ihr Sohn oder Ihr Ehegatte kommt wegen eines leicht fahrlässigen Verhaltens ihres/ seines Arbeitskollegen bei der Arbeit ums Leben oder wird derart schwer verletzt, dass Ihre Lebensqualität erheblich beeinträchtigt wird. Können Sie dann Schmerzensgeld verlangen, wenn Sie aufgrund dieses Vorfalles unter einer schweren depressiven Störung leiden und sich deswegen in ärztliche Behandlung begeben müssen?
Mit Urteil vom 06.02.2007 hat der Bundesgerichtshof diese bislang ungeklärte Rechtsfrage mit Ja beantwortet (Az.: VI ZR 55/06).
Das Problem: Verursacht der Arbeitgeber bei einem Arbeitsunfall einen Personenschaden des Arbeitnehmers, so genießt er ein Haftungsprivileg gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII. Grund für diesen Haftungsausschluss ist, dass dem Arbeitnehmer bei Personenschäden bei Arbeitsunfällen ein Anspruch gegen die jeweilige Berufsgenossenschaft als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung zusteht. Anders als die sonstigen Sozialversicherungsbeiträge (Kranken-, Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung), die je hälftig von Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu tragen sind, muss der Arbeitgeber die Beiträge zur Unfallversicherung alleine aufbringen. Da er also mit einer Art „Haftpflichtversicherung zugunsten der Arbeitnehmer“ belastet ist, soll der Arbeitgeber nicht noch zusätzlich mit einem Schadensersatzanspruch konfrontiert werden. Außerdem will der Gesetzgeber durch diesen Haftungsausschluss vermeiden, dass das Betriebsklima unnötig durch langwierige Schadensersatzprozesse vergiftet wird. Dieser Haftungsausschluss gilt gemäß § 105 SGB VII auch für Schadensersatzansprüche von Arbeitnehmern untereinander. Sinn und Zweck dieses Haftungsausschlusses ist neben dem Schutz des Betriebsklimas wiederum der Schutz des Arbeitgebers. Denn wenn der Arbeitnehmer bei Schädigung seines Kollegenvon diesem in Anspruch genommen werden könnte, dann könnte er wiederum vom Arbeitgeber nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleiches je nach dem Grad seines Verschuldens einen entsprechenden Ausgleich verlangen. Damit würde über einen Umweg der Arbeitgeber doch wieder haften, was nach oben Gesagtem vom Gesetzgeber aber gerade nicht gewollt ist.
Diese Haftungsausschlüsse gelten dabei nicht nur für die Ansprüche des Arbeitnehmers, sondern auch für Hinterbliebene und Angehörige.
Die vom Bundesgerichtshof zu klärende Frage lautete, ob diese Haftungsausschlüsse auch bei Schmerzensgeldansprüchen gelten.
Die Lösung: Während bei Schadensersatzansprüche dem Anspruchsinhaber die Kosten und Vermögenseinbußen zu ersetzen sind, die diesem durch ein schädigendes Verhalten entstanden sind (z.B. Einkommensverlust durch den Tod/ die Arbeitsunfähigkeit des versorgenden Ehegatten, Kosten durch Krankenhausaufenthalte, Kosten der Beerdigung, etc.), gewährt ein Schmerzensgeldanspruch „Ersatz“ für Nichtvermögensschäden in Form einer gerechten Entschädigung. Ein solcher Nichtvermögensschaden kann insbesondere auch durch eine depressive Verstörung infolge eines Unfalls eines nahen Angehörigen ausgelöst werden.
Zwar erfasst der Haftungsausschluss der §§ 104, 105 SGB VII grundsätzlich sowohl die Ansprüche wegen Vermögensschäden (Schadensersatz) als auch wegen Nichtvermögensschäden (Schmerzensgeld). Indes hatte der Bundesgerichtshof bislang offen gelassen, ob der Haftungsausschluss auch Schmerzensgeldansprüche von Hinterbliebenen und Angehörigen aufgrund sogenannter Schockschäden erfasst. Mit der vorliegenden Entscheidung hat das Gericht diese Frage zugunsten der Hinterbliebenen und Angehörigen geklärt.
Argumentiert hat das Gericht mit dem oben beschriebenen Sinn und Zweck der §§ 104, 105 SGB VII: Die in diesen Vorschriften normierten Haftungsausschlüsse dienen dem Schutz des Betriebsfriedens. Erleidet ein Arbeitnehmer einen Arbeitsunfall, kann diesem Gesichtspunkt aber nur dann Bedeutung zukommen, wenn der Versicherte trotz seiner Verletzung weiterhin dem Betrieb angehört. Das ist bei einem tödlichen Arbeitsunfall naturgemäß ausgeschlossen. Aber auch bei schweren Verletzungen wird der Arbeitnehmer wohl kaum die Arbeit in dem Betrieb wieder aufnehmen können.
Gegen eine Erstreckung des Haftungsausschlusses auf Schmerzensgeldansprüche naher Angehöriger wegen eines Schockschadens spricht aber vor allem auch, dass die gesetzliche Unfallversicherung insoweit keine Leistungen vorsieht. Denn die gesetzliche Unfallversicherung greift nicht ein, wenn eine Gesundheitsverletzung eines nichtversicherten Dritten (hier der Schockschaden des Angehörigen) vorliegt. Fehlt insoweit aber eine Kompensation durch die Versicherung, die der Arbeitgeber mit seinen Beiträgen voll finanziert hat, gibt es keine Rechtfertigung für einen Ausschluss solcher Ansprüche.
Die Hinterbliebenen können daher ein angemessenes Schmerzensgeld vom Arbeitkollegen verlangen. Dieser kann unter Umständen – je nach dem Grad seiner Fahrlässigkeit – Regress bei seinem Arbeitgeber nehmen.
Sadighi Rechtsanwalt
Neueste Kommentare